Der Finanzausschuss des Bundestags versucht den Fall Wirecard aufzuarbeiten. Aber vieles ist noch unklar. Eine Bilanz zum größten Bilanzskandal der deutschen Geschichte
Von Svenja Meier
Der Bilanzskandal um den Zahlungsdienstleister Wirecard zieht weite Kreise und reicht bis in die oberste Regierungsetage. Der Finanzausschuss des Bundestags setzt sich derzeit mit der Aufarbeitung des Falls auseinander. Längst ist nicht alles bekannt, um das wirkliche Ausmaß abschätzen zu können. Lesen Sie hier, was bisher als sicher gilt, was wir nur vermuten können – und was wir nicht wissen.
Was wir wissen
Die Insolvenz
Inder Jahresbilanz von Wirecard klafft ein 1,9 Milliarden Euro großes Loch. Geld, das auf Treuhandkonten in Asien liegen sollte, aber nicht existiert und letztlich dazu führte, dass Wirecard Insolvenz anmelden musste.Das Vertrauen der Anleger dahin, brach die Aktie zwischenzeitlich um 99 Prozent ein.Über Jahre hatte Wirecard Transaktionen und Einnahmen offenbar manipuliert, Geschäftspartner erfunden und so seine Bilanz aufgebläht.
Die Schlüsselfiguren
Markus Braun leitete Wirecard als Vorstandschef fast zwanzig Jahren lang, er stand für Wachstum und Visionen, führte Wirecard in den Dax.Der Österreicher mied die Öffentlichkeit, agierte eher aus dem Hintergrund. Nach Auffliegen des Skandals trat er zurück.
Wie Braun kommt Jan Marsalek aus Österreich und stieß ebenfalls vor etwa zwanzig Jahren zu Wirecard. Damals war er erst 20 Jahre alt, ein Quereinsteiger ohne Studium. Zuletzt verantwortete er die Asiengeschäfte, baute das Drittpartnergeschäft auf, über das später die Manipulationen liefen. Er ist bekannt für ausschweifende Luxuspartys und soll Verbindungen zur rechtspopulistischen Partei FPÖ haben.
Eng zusammen mit Marsalek arbeitete Oliver Bellenhaus. Er managte die Tochtergesellschaft von Wirecard in den Emiraten, diemehr als die Hälfte des gesamten Jahresgewinns erwirtschaftet haben soll. Bellenhaus wird verdächtigt, mit an der Strategie gearbeitet zu haben, über die Subfirmen die Bilanzen zu manipulieren. Er hat ein Geständnis abgelegt und ist der Kronzeuge der Staatsanwaltschaft.
Burkhard Ley ist der ehemalige Finanzvorstand, er war an der Asienexpansion beteiligt und kaufte für Wirecard Firmen zu horrenden Preisen auf. Es besteht der Verdacht, dass sich die Manager an diesen unverhältnismäßig hohen Kaufsummen selbst bereichert haben.
Der führende Buchhalter, dessen Name nicht öffentlich bekannt ist, leitete das Rechnungswesen und soll schon lange von den gefälschten Zahlen gewusst haben.
Gegen alle fünf Wirecard-Akteure gibt es einen Haftbefehl. Braun, Ley, Bellenhaus und der Chef-Buchhalter sitzen in Untersuchungshaft, Marsalek hat sich abgesetzt und ist seit mehr als sechs Wochen auf der Flucht, genauer Aufenthaltsort: unbekannt.
Die Verluste
Wirecard schrieb den Ermittlern zufolgeschon lange Verluste,seit 2015 aber buchten die Manager Milliardenbeträge auf angebliche Treuhandkonten, um das zu verschleiern: Scheingeschäfte und Luftbuchungen von Geld, das Wirecard nie besessen hat. Das hat Kronzeuge Bellenhaus ausgesagt.Allerdings könnte der Betrug mit den Zahlen sogar schon viel früher, in den 2000ern, begonnen haben.
Die Aufsichtsbehörden
Die deutsche Finanzaufsichtsbehörde BaFin stufte Wirecard als Technologiekonzern statt als Finanzholding ein. Deshalb beaufsichtigte sie nur eine der 56 Untergesellschaften von Wirecard. Als Vorwürfe laut wurden, hat sie die Untersuchung andie Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) delegiert, die nicht die Kapazitäten für so einen großen Fall hat.Nur ein einziger Mitarbeiter war dort für die Sonderprüfung von Wirecard zuständig.
Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften
Seit 2009 haben die Wirtschaftsprüfer von EY jedes Jahr die Bilanzen von Wirecard untersucht. Zehnmal bestätigten sie die Angaben des Unternehmens zu Umsatz, Gewinn und Schulden – beim elften Mal, dem Jahresabschluss 2019, verweigerten sie die Unterschrift. Ungereimtheiten hat es aber nachweislich schon 2016 gegeben. Heute sagen die Buchprüfer, sie seien selbst getäuscht worden. Im April dieses Jahres hat Wirecard außerdem die Prüfungsgesellschaft KPMG beauftragt, ihre Untersuchung sollte Wirecard entlasten. Doch sie konnten die angegebenen Bilanzbeträge weder bestätigen noch widerlegen. In wichtige Bereiche bekamen sie keine Einblicke oder blickten selbst nicht durch.
Was wir wahrscheinlich, aber nicht sicher wissen
Die Bundesregierung
Sowohl Finanz- und Wirtschaftsministerium als auch das Bundeskanzleramt haben vermutlich 2019 von Problemen bei Wirecard erfahren. Finanzminister Olaf Scholz wurde im Februar 2019 darüber informiert, dass die BaFin gegen Wirecard ermittelt. Im August unterrichtete sein Ministerium dann das Kanzleramt über den Verdacht gegen Wirecard – auf Anfrage per E-Mail. Die Vorwürfe seien da allerdings schon öffentlich bekannt gewesen. Neben Parlamentsanfragen sollen weitere Unterlagen mitgeschickt worden sein: Hinweise auf Fehlverhalten der Verantwortlichen von Wirecard und Informationen über laufende Ermittlungen der Aufsichtsbehörde.
Der Schaden
Auf Grundlage der frisierten Bilanzzahlen hatten Banken und Investoren Wirecard Kredite in Höhe von 3,2 Milliarden Euro gewährt. Mit der Wirecard-Insolvenz ist auch das Geld höchstwahrscheinlich verloren. Ebenso die elf Milliarden Euro des Börsenwertes, die das Unternehmen nach Bekanntwerden der Fälschungen innerhalb weniger Tage einbüßte.
Der BaFin-Chef
"Ich wäre der Erste, der die Konsequenzen zieht", bekräftigteder Präsident der Finanzaufsicht Felix Hufeldnoch vor wenigen Wochen in der ZEIT. Wirkliche Verfehlungen der BaFin könne er nicht erkennen. Nun häufen sich Berichte, dass Hufeld selbst Bundestagsabgeordnete im Finanzausschuss falsch informiert haben soll. Anfang Juli wehrte er sich bei einer Sondersitzung gegen den Vorwurf, dass seine Behörde den Verdacht der Marktmanipulation von Wirecard im Ausland nicht gründlich geprüft habe.
Hufeld behauptete, die Ermittlungen seien ins Stocken geraten, weil die Polizei in Singapur und die örtliche Bankenaufsicht der BaFin keine Informationen übermittelt hätten. Die asiatischen Behörden dementierten das jedoch und stellten klar, dass sie schon seit mehr als einem Jahr mit der BaFin im Fall Wirecard kooperieren würden.Das bestätigte daraufhin auch eine Sprecherin der BaFin gegenüber dem SPIEGEL.
Das Geschäft mit Drittpartnerfirmen
Wirecard hatte mehr als 50 Tochtergesellschaften. Diese Subunternehmen sollten für den deutschen Mutterkonzern Zahlungen in Dubai und Südostasien abwickeln. Wirtschaftsprüfer beurteiltendiese Zusammenarbeit mit Drittpartnern als besonders intransparent. Mittlerweile ist klar: Die Erträge aus diesen Geschäften waren – mindestens in großen Teilen – erfunden.
Was wir nicht wissen
Hat die Bundesregierung Wirecard zu lange unterstützt?
Seit Ende 2018 stand das Bundeskanzleramt in Kontakt mit Managern und Beratern von Wirecard. Dazu holte das Kanzleramt Informationen beim Finanzministerium ein – und bekam die oben erwähnte E-Mail.Im September 2019 reiste Angela Merkel nach China und setzte sich bei der Regierung in Peking für Wirecard ein. Es ging um die Übernahme eines chinesischen Unternehmens durch Wirecard. Gegenüber dem Kanzleramt soll Vorstandschef Braun damals alle Anschuldigungen zurückgewiesen haben.
Wo ist Jan Marsalek?
Nur Stunden nach seiner Freistellung bei Wirecard ist Marsalek abgetaucht. Erst wurde er auf den Philippinen vermutet, was sich jedoch als falsche Fährte erwies. Beamte hatten seine Einreisedaten gefälscht. Stattdessen soll der 40-Jährige nachBelarusund weiter in die Nähe von Moskau geflüchtet sein. Dort unterhält Marsalek angeblich Kontakte zum russischen Geheimdienst GRU. Er besitzt mehrere Pässe und hat Berichten zufolge große Mengen Bitcoin nach Russland transferiert. Marsalek soll nach Angaben des Handelsblatt für Russland verdeckte Zahlungen abgewickelt haben.
Welche Folgen hat der Skandal bisher?
Die Finanzaufsicht steht in der Kritik, Wirtschaftsprüfer haben versagt, Spitzenpolitiker sehen sich mit Vorwürfen konfrontiert: Politische Konsequenzen hatte das bisher kaum. Das könnte sich aber bald ändern. Die Opposition im Bundestag will zur politischen Aufarbeitung einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Nach AfD, FDP und der Linken sind nun auch die Grünen dafür, sagte der Grünenabgeordnete Danyal Bayaz nach einer Sondersitzung des Finanzausschusses. Die nötige Stimmenzahl wäre damit vorhanden.
Für die Finanzmarktaufsicht sind außerdem Reformen angekündigt. Die BaFin soll mehr Befugnisse und Eingriffsrechte in Kapitalmarktunternehmen erhalten und auch für Wirtschaftsprüfer soll es Neuerungen geben. Wer ein Unternehmen prüft, soll es nicht gleichzeitig beraten dürfen. Zudem sollen die Prüfer öfter wechseln.